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  • Elena Willi

Wir haben genug und doch lange nicht ausreichend

Frauen Literatur von Nicole Seifert (2021)


«Langsam haben wir doch wirklich genug über das Zeug gesprochen. Also gerade Frauen in der Schweiz können doch nicht von Ungleichbehandlung sprechen», sagst du und meinst es ernst, was du da sagst. Ich bin sprachlos über so viel Selbstgefälligkeit und du ergänzt: «Dieses ganze Feminismus-Ding nervt langsam.»


Oh ja, ich bin auch genervt. Ich bin genervt von solchen Kommentaren. Und genervt von mir selber, die dann manchmal denkt: «Vielleicht wär es jetzt wirklich besser, nicht wieder eine Diskussion über Geschlechtergleichheit anzufangen», weil ich lieber nicht ungemütlich sein möchte. Niemand soll sich schliesslich genervt fühlen.



Aber so oft kommt die Wut in mir trotzdem hoch. So hat das Buch «Frauen Literatur» von Nicole Seifert dieses Gefühl in mir wieder aufleben lassen. Seifert schreibt darin über die Ungleichbehandlung zwischen Autorinnen und Autoren in der Welt der Literatur.


Bis vor nicht allzu langer Zeit gab es in der Stadtbibliothek Winterthur noch eine Abteilung für «Frauenliteratur». Was das bedeuten soll, fragst du dich? Es handelt sich dabei zumeist um Bücher von Frauen, die angeblich ausschliesslich für ein weibliches Publikum verfasst wurden. Aber sind Bücher nicht geschrieben, damit alle sie lesen können, ungeachtet ihres Geschlechts oder sonstiger Merkmale? Diese Egalität scheint in der literarischen Welt noch nicht wirklich etabliert zu sein.


Seifert schreibt davon, wie viele Büchergestelle, darunter auch ihr eigenes, männlich dominiert waren oder sind. Sie schreibt davon, wie sie diesen Umstand bei sich selbst veränderte. Es gibt so viele gute Autorinnen, warum sollten wir immer nur Goethe, Schiller oder Frisch lesen?


Schon im Gymnasium habe ich mich gefragt, wieso wir eigentlich so selten Bücher von Autorinnen lesen. «Für Jungs wäre es halt mega schwer, sich in diese Welt hineinzudenken», hat eine Kollegin von mir mal gesagt. Auch mit 14 kam mir diese Aussage nicht logisch vor. Wieso sollte ich als Frau mich eher in eine «männliche» Welt hineindenken können, als Männer sich in eine aus weiblicher Perspektive? Und gibt es sie überhaupt, eine «männliche» oder «weibliche» Perspektive? Sind nicht alle Menschen sowieso verschieden, unabhängig von ihrem Geschlecht?


Seifert schildert den Umstand, dass Autorinnen häufig auf eine rein weibliche Leserinnenschaft zählen können, während ihre männlichen Kollegin ein breiteres Publikum ansprechen. Oder hast du schon mal das Wort Männerliteratur gehört?


Ausserdem spricht die deutsche Autorin in ihrem Buch den Umgang mit Werken von Autorinnen an. Oft werden diese in Rezensionen zerrissen: «Banal, kitschig, trivial», werden sie genannt. Häufig geht es dabei nicht nur um den Inhalt der Werke, sondern um das Erscheinungsbild der Autorinnen.


Nicole Seiferts Buch machte mich sprachlos und wütend zugleich. Die Auszüge aus den Rezensionen zeigen, wie teilweise diskriminierend und deplatziert mit Werken von Autorinnen umgegangen wird. Dass solche Texte tatsächlich in Zeitungen abgedruckt werden, hätte ich nicht für möglich gehalten. Dabei sind es noch nicht einmal Beispiele aus einer längst vergangenen Zeit, sondern ziemlich aktuelle. Im August 2019 war im Tages Anzeiger in einer Rezension zu Sally Rooneys Buch Gespräch unter Freunden zu lesen:«Die Autorin sieht auf einem Foto aus wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen» Apropos, die Gleichstellung ist bereits erreicht, besonders in der Schweiz…


Ja, ich bin genervt. Und jedem und jeder, der sich nicht vor der Wut fürchtet, würde ich dieses Buch empfehlen. Wütend macht mich auch, dass dieses Buch vermutlich von genau denjenigen nicht gelesen wird, die es am nötigsten hätten.


Etwas Hoffnung gibt das «Frauenliteratur» aber dennoch. Denn Veränderung findet statt, wenn auch nicht immer so schnell, wie ich mir das wünschen würde. Immer mehr Leute werden sich nämlich dem Umstand bewusst, dass «Frauenliteratur» eigentlich keine Textgattung, sondern blosse Diskriminierung ist. So ist auch die gleiche genannte Abteilung in der Stadtbibliothek inzwischen verschwunden.


Was wir selbst dazu beitragen können? Lest Bücher von Frauen, auch wenn ihr euch als Mann identifiziert. Nein, dass heisst nicht, boykottiert ab jetzt alles von Autoren, aber gestaltet euer Bücherregal etwas diverser. Das Geschlecht ist dabei erst der Anfang...


Tschäse und Bussi

Elena



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