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  • Sasha Müller

Chamäleon im Supermarkt

«Convenience Store Woman» von Sayaka Murata, aus dem Japanischen ins Englische von Ginny Tapley Takemori


Vor einiger Zeit habe ich über meine sehr bescheidene Erfahrung mit asiatischer Literatur berichtet - nämlich hatte ich Haruki Murakamis «Naokos Lächeln» gelesen. Nicht so begeistert war ich da und hatte Angst, dass ich, verblendet durch meinen kulturellen Hintergrund, nicht über den eurozentrischen Tellerrand schauen kann. Mehr als beruhigt bin ich jetzt, denn «Convenience Store Woman» der japanischen Autorin Sayaka Murata gehört definitiv zu meinen diesjährigen Lese-Highlights.



24 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche stehen die Tore des Convenience Store, einer Art Supermarkt, offen. Ein kleines Universum, mit eigenen Regeln und Gesetzen. Ein Ort, an dem alle Mitarbeiter*innen passend zur Uniform die gleichen Gesichtsausdrücke tragen, die immergleichen Phrasen in einer gleichklingenden Stimmlage sprechen. Ein Albtraum, könnte man meinen, für Keiko Furura aber der einzige Ort, an dem sie sich wohl fühlt.


Keiko ist glücklich: Seit zwölf Jahren arbeitet sie trotz abgeschlossenem Studium in einem Convenience Store, erfüllt ihren Nutzen und ist ein funktionierendes Zahnrad in der Maschinerie der Gesellschaft. Ihr Umfeld kann oder möchte Keikos Glück nicht sehen - von allen Seiten hört sie die Frage, ob sie sich nicht einen besseren Job suchen will, oder zumindest heiraten und Kinder gebären. Als der zynische Shiraha eingestellt wird, entschliesst sich Keiko dazu, diesen Forderungen nachzugehen und lässt zum ersten Mal seit langem grössere Veränderungen zu…


Murata erzählt, wie schwer es manchmal ist, in der Gesellschaft einen Platz für sich zu finden. Besonders dann, wenn die ungeschriebenen Regeln des sozialen Lebens ein Mysterium sind, wenn es schwer fällt, Verhalten und Gesichtsausdrücke von anderen Menschen zu deuten. Wenn umgekehrt das eigene Handeln und Verhalten oft kaum akzeptiert und schon gar nicht verstanden wird.


Mich hat besonders der Gedanke fasziniert, dass Anpassung eben nicht alles ist. Bis anhin habe ich gedacht, wer sich verhält wie alle anderen, würde akzeptiert. Dies funktioniert aber nur bedingt: Für Treffen mit Familie und Freunden in der Welt ausserhalb des Supermarkts, kopiert Keiko das private, "normale" Verhalten ihrer Mitarbeiter*innen aus dem Pausenraum. Wie ein Chamäleon übernimmt sie Wortschatz und Tonfall, Gestik, Mimik und den Kleidungsstil. Dennoch wird sie oft schräg angeschaut: Zu schnell ändert sie ihr Äusseres, an Keikos Art lassen sich die wechselnden Supermarkt-Mitarbeiter*innen ablesen. Ist sie hingegen sich selbst, erntet sie Misstrauen, zu stark weichen ihre Denkwege und ihr Verhalten von dem ihrer Mitmenschen ab. Gleich wie die meisten Menschen hegt sie aber vor allem einen Wunsch: Akzeptanz.


Witzig und überraschend und dennoch philosophisch ist dieser kurze Roman, zu gerne wäre ich noch ein wenig länger in die bunte Welt des Supermarkts eingetaucht. Die Autorin hat übrigens auch selbst Arbeitserfahrung in einem Convenience Store, das lässt sich so auch in den liebevoll geschilderten Details im Supermarkt herauslesen. Murata erinnert in ihrem Buch daran, dass Menschen eben alle verschieden sind, aber dennoch das Gleiche wollen. Oder war es umgekehrt? Ein komplexes Thema, das wohl nie zu Ende gedacht sein wird. Umso wichtiger, dass unterschiedliche Stimmen gehört und gelesen werden. Damit wir offen bleiben - wenn uns das auch nicht 24/7 möglich ist.


Tschäse & Bussi

Sasha


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