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  • Eselsohren

Die Zeit der Bücher

«Mojas Stimmen» von Ruth Loosli (Rezensionsexemplar)


Zeit ist ein seltsames Konzept. Die Zeit beeinflusst all unser Handeln und doch sind wir uns ihrer nur zu selten bewusst. Wir wissen meist, wann die Zeit vom Aufstehen ist, die Zeit des Wochenendes oder die Weihnachtszeit. Wann die Zeit welcher Bücher ist, wissen wir allerdings nicht aktiv oder meist erst im Nachhinein. Die Primarschulzeit war beispielsweise die Zeit von «die Wilden Hühner», die Oberstufe dann die Zeit der dystopischen Romane und grossen Liebesgeschichten, später dann der Bücher mit der Bezeichnung «Young Adult». Aber jetzt? Jetzt könnten wir alles lesen und doch gibt es Bücher, die wir aufgrund des Klappentexts nicht wählen würden, noch nicht. Bücher, die wir instinktiv für eine spätere Zeit aufschieben würden, auch wenn nicht unbedingt zurecht.


So erging es uns, als wir Ruth Looslis «Mojas Stimmen» zu lesen begannen. Erzählerin ist Paula, eine über fünfzigjährige Mutter und Witwe, die in Winterthur lebt. Paulas Tochter Moja ist in den 20ern und hört Stimmen. Stimmen, die ihr befehlen dieses oder jenes zu tun. Stimmen, die ihr das Leben schwer machen. Paula sorgt sich um ihre Tochter und versucht verzweifelt einen Ausweg aus Mojas Stimmengewirr zu finden.





Loosli schreibt über Schizophrenie als eine Herausforderung, nicht nur für die betroffene Person sondern auch für die Angehörigen. Paula stösst an die Grenzen des Erträglichen: Sie muss sich von Moja, ihrer eigenen Tochter, abgrenzen, um nicht selbst zu zerbrechen. Doch wie soll sie das machen, ohne Moja aufgeben zu müssen? Wie viel darf man seiner kranken erwachsenen Tochter noch befehlen? Wie viele Freiheiten muss man ihr lassen? Soll man sie all die Tabletten schlucken lassen, die ihre Wahrnehmung dämpfen, mit denen sie sich nicht wie sie selbst fühlt?


Für uns ist es eine etwas ungewohnte Perspektive, die Erzählstimme einer Mutter. Ungewohnt aber umso spannender: Vieles können wir nachvollziehen, bei einigen Beschreibungen stutzen wir ein wenig. Wir fragen uns, ob es uns zum Verständnis noch an Zeit fehlt, an Erfahrungen. Selbst kennen wir die Perspektive einer Tochter, nicht die der Mutter. In den Büchern, die wir bereits gelesen haben, liegt der Fokus selten auf einer älteren Frau und ihrem Leben. Ob das an unserer Bücherauswahl liegt oder an einer Tendenz in der Literatur?

Es ist eine bunte und manchmal graue Welt, die Loosli für uns kreiert. Zugleich ist es eine, die sich echt anfühlt, was sicher nicht nur daran liegt, dass wir den Schauplatz Winterthur zu genüge kennen. Looslis Beschreibungen wirken sehr ehrlich, ihre Figuren durch und durch authentisch: Keine der Figuren trägt die Schuld alleine, sie alle haben ihre Schwächer und machen Fehler, wie wir es nur zu gut aus unseren Erfahrungen kennen.


«Mojas Stimmen» ist Ruth Looslis erster Roman, bis jetzt hat die winterthurer Autorin vor allem Lyrik veröffentlicht. Dies schlägt sich auch im Schreibstil von «Mojas Stimmen» nieder: Loosli wählt die Worte vorsichtig, fügt genauen, detailreichen Beschreibungen zahlreichen Metaphern und lyrische Ausdrücke an:


«Du speist die Worte wieder aus, es sind kleine Rauchwolken, die kringeln dir aus Nase und Mund»


Die Mutter-Tochter Thematik steht im Fokus, dennoch lässt sich die Sorge um einen geliebten Menschen doch auf jede Beziehung übertragen. Wie lange kann und darf man zusehen? Wie sollen wir mit der Hilflosigkeit fertig werden, die eine psychische Erkrankung mit sich bringt?


Bei vielen hat in der Zeit der reduzierten sozialen Kontakte und der eingeschränkten Möglichkeiten die psychische Gesundheit gelitten. Wir lesen Artikel über die steigende Anzahl Jugendlicher, die suizidgefährdet sind. Psychische Erkrankungen sind ein blinder Fleck unserer Gesellschaft, egal ob auf Ebene der Behandlungen, des Vorwissens oder der Finanzierung durch die Krankenkasse. Kaum jemand weiss, wie man korrekt damit umgehen soll, egal ob als betroffene oder angehörige Person: Vieles wird schöngeredet, verschwiegen, unter den Teppich gekehrt. Der Fakt, dass Psychotherapeut*innen nicht direkt über die Krankenkasse abrechnen können sagt uns auch genug.


Umso wichtiger ist Looslis Buch, das versucht, diesen blinden Fleck anzugehen. Ruth Loosli konnte beim Schreiben dieses Romans auch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, wie sie uns schon verraten hat. Wie sehr dies «Mojas Stimmen» beeinflusst hat, erzählt sie uns vielleicht an der Lesung mit ihr am 5. März im Café zum hinteren Hecht. Ehrlich und direkt aber dennoch leicht zu lesen, legen wir «Mojas Stimmen» allen gerne ans Herz - egal ob jung oder alt.


Tschäse & Bussi

Sasha und Elena


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