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  • Elena Willi

90 Seiten an einem Abend

«Hört einander zu!» von Elif Shafak (2020)


Gekauft, gelesen. Ungefähr so fühlte es sich für mich mit Elif Shafaks Textsammlung Hört einander zu! an. Es war ein warmer Sommertag und ich hatte mich gerade mit einer Kollegin getroffen. Nur ganz schnell bin ich noch in die Buchhandlung am Bahnhof gehuscht, um die 5 Minuten Auf-den-Zug-Warten zu überstehen – denn ich warte nicht gerne.


«Ganz schnell» reichte, um nach dem Buch mit unglaublich schönem Einband zu greifen, zur Kasse zu gehen: Gekauft. Das Lesen im Zug geht bei mir leider nicht so gut, weil mir da immer übel wird. Also musste ich mich die halbe Stunde Heimreise gedulden.


Zuhause angekommen platzierte ich mich also auf meinem Bett und las das Buch durch, ohne es einmal abzulegen. Wie gebannt folgte ich Shafaks Erzählungen über die 5 Kapitel: Desillusionierung und Verunsicherung (1), Angst (2), Wut (3), Teilnahmslosigkeit (4), Information, Wissen und Einsicht (5).





Shafak ruft uns dazu auf, uns gegenseitig zuzuhören. Durch ihre Schilderungen kritisiert sie die Gesellschaft und macht auf Missstände aufmerksam. Aber es ist kein schimpfender Zeigefinger, den die Autorin uns hier geschenkt hat. Es ist ein Buch, das uns einen persönlichen Einblick in die Lebensgeschichte Shafaks gibt. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Familie in England, weil sie in Istanbul angefeindet wird.


Beim Lesen kam mir ein Text in den Sinn, der auf so einer Gratis-zum-Mitnehmen Karte stand, die in den Cafés jeweils ausgelegt sind und die ich gerne einstecke: «Es ist einfacher für die Demokratie zu kämpfen, solange es sie noch gibt. Danach wird es erheblich schwieriger.»


Wenn ich Zeitung lese oder die Nachrichten schaue, dann wird mir immer wieder bewusst, wie nicht-selbstverständlich ein wirklich demokratisches System heutzutage ist – auch in Europa. Korruption, Fremdenfeindlichkeit und Unterdrückung: Weil wir einander nicht zuhören wollen? Weil wir uns nicht verstehen wollen?


Zuhören und verstehen, bedeutet manchmal sich aus seiner bekannten Zone herauszuwagen und den Horizont für Unbekanntes zu öffnen. Was dieses Wagnis teilweise erschwert, spricht Shafak in ihren Texten an. Es ist die Desillusionierung, die Verunsicherung, die Angst.


Was ich glaube, aus Shafaks Texten herauszulesen, ist ihr Wunsch nach mehr Einfühlungsvermögen für einander. Es ist nicht nur das Zuhören, es ist das Verstehen (oder zumindest der Versuch) und das Anerkennen, das Sehen «der Anderen».


Gelesen hatte ich die knapp 90 Seiten schnell. Die Gedanken zur Shafaks Worten bleiben noch lange in meinem Kopf. Ich finde es wichtig, mich wieder an die Notwendigkeit des Zuhörens zu erinnern. Besonders daran, dass es auch andere Meinungen als die meine gibt.


Glücklicherweise ist das Buch so schön, dass es sich einen Platz auf meinem Pult erkämpft hat – wo ich gerne nur wenig rumstehen habe. So weilt es dort, als freundliche Erinnerung ans Zuhören, wenn einem wieder einmal die Angst vor «dem Anderen» überkommt.


Tschäse und Bussi

Elena



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