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  • Gastbeitrag

Aus dem Stundenheft einer sterbenden Frau

«Von Fall zu Fall» von Elvira Steppacher


Von Ruth Loosli


Kein Roman. Ein Stundenheft, wobei: in ein schönes Buch gebunden, mit weissem Bändchen, alles sehr elegant. Die Eleganz passt zu Inhalt und Sprache. Einer Frau steht ihr eigener Tod bevor (was man ja gerne verdrängt, dass «er» auch zu der Lesenden selbst kommen könnte), sie beginnt Aufzeichnungen zu notieren, besucht täglich den naheliegenden Friedhof, notiert Zeit und Datum.


Es passiert wenig bis nichts. Doch durch dieses Wenige, diese Stille taucht die Beobachterin immer tiefer in kleine und kleinste Details, sie nimmt Dinge wahr, die man im hektischen Alltag nie sehen würde; sie dringt immer tiefer in die Materie der Natur. In eine vergängliche Materie, die sich fortwährend verändert, bewegt und bewegen lässt. Von einem Windstoss, von der Genetik der eingravierten Lebensdauer.


Sie beschliesst denn auch, den Vorgang ihres eigenen Todes als rein biologisches Ereignis zu betrachten. Freundet sich mit faszinierenden Scheinfrüchten an, mit honiggelben Pilzen und Tieren, die durch das Gebüsch huschen. Sie steckt ihre Felder ab, geht an Gräbern entlang und recherchiert, wer die Verstorbenen gewesen sind, mindestens, was den datenmässigen Lebenslauf betrifft. So trifft sie auch auf einen unbekannten Dichtersoldaten.


Die eingestreuten Geschichten aus der vergangenen (Kriegs)zeit interessieren mich nicht so sehr wie ihre unglaublich subtil beschriebenen Vorgänge in der Natur. Da gerate ich ins Staunen, wenn nicht gar ins Schwärmen. Doch für letzteres ist das «Stundenheft» einer sterbenden Frau zu durchdrungen von einer beinahe schmerzhaften Genauigkeit, die zugleich immer wieder zu begeistern vermag. Den Atem stocken lässt. Man vermutet eine Architektin oder eine Malerin hinter den Aufzeichnungen.


So genau hinzuhören ist für jede Lebenssituation von Nutzen, nicht nur, wenn es gilt, endgültig Abschied zu nehmen. Und die Jahreszeiten Herbst und Winter sind perfekt, um dieses Buch zu lesen, stundenweise, seitenweise, Schlückchen um Schlückchen; aus einem kostbar geschliffenen Glas aus der Flasche eines alten Weines.

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