«Steine zählen» (2022) von Thomas Röthlisberger ein Beitrag im Rahmen des Schweizer Buchpreises
Das Leben in der Schweiz hat auch seine Nachteile. Ist man unglücklich und verzweifelt, hat man doch immer das Wissen im Kopf, dass bei uns in der Schweiz ja alles gut sei, dass es keinen Grund gibt, sich über irgendwas zu beklagen oder sich schlecht zu fühlen. An die Drittweltländer solle man denken und sich besser fühlen, schon bei unseren Nachbarländern seien die Lebensbedingungen schlechter als bei uns. Ähnlich gut wie in der Schweiz lebe es sich in den nordischen Ländern, beispielsweise in Skandinavien. Dorthin darf man den Blick noch wenden, das Licht der Zukunft scheine dort möglicherweise noch etwas heller als in unseren tiefen schweizerischen Bergtälern.
Dies zumindest das Bild, welches mir in der Schule vermittelt wurde. Abgesehen davon, dass eine solche Logik überaus fragwürdig ist, hilft sie auch nicht gegen eine schwerwiegende Gemütskrise anzukommen, dunkel kann es überall werden. Eher düster ist es so auch im Finnland von Thomas Röthlisbergers «Steine zählen».
Matti hat auf seine Frau Märta geschossen, als sie ihn nach 40 Jahren Ehe verlässt. Nun muss Henrik Nyström, der lokale Polizeibeamte, ermitteln. Hat Matti dies wirklich getan - er kann sich nämlich nicht daran erinnern, auf Märta geschossen zu haben. Da war bloss ein Fuchs, der immer um sein Haus herumschlich, auf den man sein Gewehr richten musste. Die Schnapsflasche und Mattis fast blinden Augen halfen da auch nicht. Und überhaupt, warum würde Märta ihn nach 40 Jahre Ehe verlassen, auf ein paar Jahre mehr oder weniger kommt es dann doch auch nicht mehr darauf an?
Auch Märta weiss nicht mehr weiter, sie versucht zu verstehen, wie das alles so kommen musste: Ganz plötzlich ist sie alt geworden. Früher hatte sie für jede wertvolle Erinnerung einen Stein gesammelt, später hat Matti sie nach ihr geworfen. Jetzt liegen sie draussen vor dem Haus, wenn Matti mit seinem Gehstock über seinen Hof humpelt, zählt er die Steine, die er wegkicken kann.
Abwechselnd durch die Perspektiven von Henrik, Matti, Märta und Olli erzählt Röthlisberger seine Geschichte. Die persönlichen Gedanken und Erinnerungen der Figuren lassen uns verstehen, wie es zu einem solchen Leben kommen konnte, vielleicht gar kommen musste. Über die Ausweglosigkeit der Situation schreibt Röthlisberger, darüber, dass man dem Schicksal kaum entkommen kann, wenn an jeder Ecke ein bekanntes Gesicht beobachtet und kontrolliert.
Zermürbend ist es, diesen Figuren und ihrem vorprogrammierten Unglück zuzusehen, das Gewicht ihrer Erinnerungen zu spüren. Dennoch habe ich das Buch sehr gerne gelesen, einerseits durch die Kulisse der finnischen Pampa, vor allem aber durch die szenischen Beschreibungen und feinfühligen Details. Auch die eine oder andere Metapher ist eingewoben, die ich genussvoll enträtseln durfte. Ein guter Arthouse-Film, mit schönen Bildern, einer berührenden Geschichte aber ohne aufgedrängte Moral.
Vor allem bleibt für mich die Frage: Was hätte getan werden können? Es scheint, als wäre die einzige Lösung, das Dorf zu verlassen, in die Stadt zu ziehen. Wo man mehr Privatsphäre hat, mehr Möglichkeiten, weniger Steine im Weg. Gäbe es wirklich keine Möglichkeit, an den Umständen etwas zu verändern? Welche Bedingungen braucht man nun tatsächlich für ein gutes Leben und sind diese in der Schweiz, in unserem System, gewährleistet? Es scheint mir, als sei das eigentliche Problem meist die grosse Angst vor Veränderungen - somit beisst sich die Katze in den Schwanz, denn: Um diese Angst zu nehmen, muss etwas verändert werden. Es bleibt also zu hoffen und fleissig das System zu hinterfragen, um die nötigen Veränderungen voranzutreiben. Denn nötig sind sie allemal.
Tschäse & Bussi
Sasha
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