«Her Hair» (2019) von Claudia Pagès und «Die Unruhe der Bücher» (2020) von Sascha Michel
Ich mag keine Pixel.
Banal und dumm von mir, denn die gesamte digitale Welt, inkl. diesem Blog, besteht aus den kleinen, rechteckigen Kästchen in den Farben Rot, Grün und Blau. Das ist mir bewusst – und ich habe auch nicht grundsätzlich etwas gegen die digitale Welt. Ich verbringe einfach zu viel Zeit im fahlen Licht meines Computers, weil ich muss. Fürs Studium, beim Warten auf den Bus vor den Werbetafeln, für meine Verabredungen, meine Emails, meinen Fahrplan – die Liste ist endlos.
So viel wie möglich mache ich deshalb offline, am liebsten mit Gegenständen ohne Knöpfe und spiegelndem Glas, am liebsten in Büchern. Letztens habe ich «Die Unruhe der Bücher» von Sascha Michel gelesen, ein Essay über den Prozess des Lesens. Michel schreibt darin, dass es für die Wirkung der Geschichte nicht relevant ist, ob wir online oder offline Lesen. Auch komme es für den Interpretationsprozess nicht darauf an, ob wir ein Buch lesen oder eine Serie schauen. Vor etwa 200 Jahren wurde der Eskapismus in Büchern, die «Lesesucht» kritisch betrachtet. Heute ist es das Bingewatching oder das endlose Durchscrollen des Instagramfeeds, welches oft als unbedachtes, süchtiges Verhalten verurteilt wird, so Michel.
Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied, zwischen Socialmedia-Konsum und dem Lesen: Wenn wir ein Buch lesen, also eines dieser uralten Exemplare aus Papier und Tinte, dann nimmt uns das Buch nicht wahr. Netflix hingegen, Facebook oder auch dieser Blog, sind ein waches Gegenüber. «Konsument*in» ist somit das falsche Wort – vielmehr handelt es sich um eine Beziehung. Wir schauen durch ein Glas, ein Fenster, doch auf der anderen Seite blickt etwas zurück, registriert unser Klicken und Scrollen. Dafür werden wir dann mit noch mehr Bildern, Serien und Produkten berieselt – alles Dinge, die wir unbedingt brauchen. Dies erschwert auch den bewussten Lese- oder Interpretationsprozess. Ein weiterer wichtiger Unterschied, den Michel allerdings nicht erwähnt, ist die krasse Visualität der digitalen Angebote. Farben, Bewegung, Knöpfe, die man drücken oder anwählen kann. Da kann unser Auge einfach nicht widerstehen, so funktioniert der Mensch nunmal und verbringt unzählige Stunden vor dem bunten, oberflächlichen Bildschirm.
Wenn ich selber lese, möchte ich aber nicht beobachtet werden. Deshalb greife ich lieber zum schweren Buch, zur gedruckten Zeitung oder zur glänzenden Magazinausgabe. Ich bin nicht alleine mit dieser Einstellung, man frage den durchschnittlichen Hipster von Zürich. Bis vor kurzem gab es sogar einen wunderbaren Laden für Printmagazine in Zürich, «Print matters!», wo ich das wunderbare Büchlein «Her Hair» von Claudia Pagés fand. Keine Frage, dies ist ein Nischenprodukt. Kaum irgendwo erhältlich, und wegen der Schliessung von «Print matters!» auch fast nicht mehr auffindbar in der Schweiz.*
Pagès beleuchtet in «Her Hair» alle Facetten des Haars: Wie unser Haarschnitt und unser Körperhaarwuchs geschlechtsspezifisch sind und uns in die gesellschaftlichen Abbildungen von «Männern» und «Frauen» zwängen. Durch die Haarfarbe und -beschaffenheit werden wir in kulturelle und geographische Kategorie n eingeteilt, oft unbewusst. Auch beschreibt Pagès Haare als ein Produkt zwischen Leben und Tod. Zwischen unserem Körper und den leblosen Objekten, denn Haare wachsen zwar und können die Farbe wechseln, bestehen aber aus toten Zellen. Ähnlich wie auch die Sprache, welche zwischen den Gedanken und der Ausführung stehen.
«Notebooks and journals are the waste of people’s thoughts. Nobody wants to read them, but they keep growing.»
Kompliziert und philosophisch? Auf jeden Fall, aber auch poetisch und augenöffnend. Pagès schreibt die einzelnen Teile genderinklusiv, was manchmal etwas verwirrend ist. «Her Hair» ist auf Englisch und Spanisch geschrieben, die beiden Sprachen verflechten sich im Laufe des Buches immer mehr. Für Spanischkenner*innen sehr spannend, für alle anderen aber auch problemlos verständlich.
Ich bin grosser Fan von Auseinandersetzungen mit alltäglichen, scheinbar selbstverständlichen Gegenständen und Themen ausserhalb des Scheinwerferlichts. Oft stecken dort die spannendsten Geschichten. Geschichten, die genauso horizonterweiternd und unerwartet sind, wie eine südkoreanische Netflix-Serie.
Etwas lokaler Buchtourismus also, statt in die Weite wird in die Tiefe geschaut – in die Unendlichkeit der kleinen Dinge. Vielleicht sollte ich mich mit Pixeln anfreunden. Möglicherweise sind die kleinen Rechtecke auch schon bald geschichtenschwer und nostalgiebehaftet. Als Untersuchungsgegenstand jedenfalls, geben sie viel Denkstoff her – genau wie Claudia Pagès «Her Hair».
Tschäse & Bussi
Sasha
*Hier könnte man es bestellen (keine Werbung, aber falls es euch interessiert)
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