«Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm» von Felicitas Hoppe (2021)
Von Isabelle Schmid
Warum soll man ein Buch lesen, das eine Geschichte aus dem Jahr 1200 wiedererzählt, wie bereits viele Filme, Theater, Opern und Bücher zuvor? Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich «Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm» im Buchladen sah. Dazu muss man sagen, dass ich mich in meinem Germanistikstudium bereits ein ganzes Semester mit dem Nibelungenlied von 1200 auseinandergesetzt habe und eigentlich genug davon hatte. Dank Felicitas Hoppes Namen auf auf dem Cover, wagte ich dennoch einen Blick ins Buch - denn die deutsche Autorin hat mich bisher noch nie enttäuscht.
Auffallend war sofort, dass jedes Kapitel mit vier bis fünf Wörtern in einem schwarzen Rechteck beginnt. In Verbindung mit dem Titel und dem letzten Kapitel, welches die Überschrift «Abspann/Credits» trägt, wird klar, weshalb. Das Buch wird als Stummfilm inszeniert, indem vor jeder Szene ein schwarzes Rechteck mit Schrift die Handlung der kommenden Szene ankündet. Mein Interesse war geweckt, denn: Hoppes Buch erzählt die Originalgeschichte zwar wieder, doch mit einigen Überraschungen.

Das Nibelungenlied von 1200 handelt von Siegfried, dem edlen Ritter und rasenden Helden, der die schöne Kriemhild heiraten will. Dafür muss er ihrem Bruder Gunther helfen, die starke Brünhild zur Frau zu gewinnen. Die Brautwerbung um Brünhild ist der Beginn eines Konflikts, der damit endet, dass Gunther Siegfried hinterhältig umbringen lässt. Kriemhild, die Siegfried geliebt hat, plant in ihrer Trauer Rache an Gunther und seinem Volk. So kommt es am Ende der Geschichte zu einem brutalen Gemetzel, bei dem beinahe alle Figuren sterben.
Was Hoppe nun geschrieben hat, ist keine moderne Adaption der Handlung, in der sich Brünhild beispielsweise als starke Frauenfigur gegen Siegfried behaupten kann und frei bleibt. Ihr Buch ist vielmehr eine Interpretation, ein Weiterspinnen und Kommentieren der Geschichte von Siegfried, Kriemhild, Brünhild und Gunther. Dies gelingt ihr, indem sie sich von der Handlung her ans Original hält und von dort aus das Buch äusserst vielschichtig aufbaut.
Es beginnt damit, dass man als Leser*in einer Theateraufführung des Nibelungenlieds beiwohnt und in zwei Pausen einen Blick hinter die Kulissen bekommt. Hinter den Kulissen werden die Schauspieler*innen der Aufführung zu ihren Figuren interviewt. Man erfährt einerseits einiges über den Charakter der Figuren und andererseits wird in den Interviews das Theater als Interpretationspraxis thematisiert.
Dabei kommen Fragen auf, die durchaus relevant sind für die heutige Zeit und den Literatur- und Kulturbetrieb. Wie sehr kann man sich für eine Inszenierung von einer berühmten Vorlage lösen? Wie geht man mit dem Publikum um, das Erwartungen hat, die erfüllt werden sollen aber trotzdem überrascht werden will? Was macht man mit Rollen, die in einer modernen Gesellschaft längst veraltet sind?
Was das Buch zudem lesenswert macht, ist Felicitas Hoppes Schreibstil. Ihre langen, verschachtelten Sätze, Wortspiele und Aufzählungsketten machen das Ganze poetisch und toll zum Lesen, aber auch teilweise etwas kryptisch und schwer verständlich. Gewisse Dinge ergeben mehr Sinn, wenn man das Original kennt und sich ein wenig mit der Thematik befasst hat. So gibt es beispielsweise oft Anspielungen auf Forschungsdiskussionen der Mediävistik.
Daher ist es sicher hilfreich die Handlung des Nibelungenlieds von 1200 etwas zu kennen, bevor man Felicitas Hoppes Roman liest. Jedoch kann man sich auch so ans Buch heranwagen und in einer tolle Sprache eine alte Geschichte in einem vielschichtigen, modernen Kleid kennenlernen.
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