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  • Sasha Müller

Eine Auswahl, kein Buch und Sirup

«Mit Geschichten durchs Jahr», «Reportagen Magazin» & «Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke» (1936)


Weil man fürs Studieren nicht bezahlt wird, arbeite ich diesen Sommer in einer Gelateria. Das Geschäft läuft prima, es kommen auch in diesem regnerischen Sommer genug Leute. Nach langem Überlegen vor der prall gefüllten Vitrine (28 Sorten), bestellen sie dann: Schokolade und Vanille. Oder vielleicht Erdbeere.


Als Mitarbeiterin darf ich mir jeden Tag ein Gelato machen und bemühe mich, nicht jedes Mal Pistache und Stracciatella zu nehmen. Jede Sorte schmeckt schliesslich einzigartig und wenn man immer beim Bekannten bleibt – nun, dann ist das Leben nicht schlecht aber eben nicht besonders vielfältig.


Das Buch «Mit Geschichten durchs Jahr», herausgegeben vom Diogenes Verlag, erzählt jeden Tag vom Jahr eine andere Geschichte verschiedener Autor*innen: An manchen Tagen vertraute Grimm-Märchen, an anderen sind es Erzählungen von Kafka und manchmal besteht die Geschichte nur aus einem Satz - von einem Autor, der zumindest mir nicht bekannt war. Wie in einer Gelateria habe ich mich Tag für Tag durch eine neue Geschichte probiert.





Eine kleinere aber nicht weniger gute Auswahl an Geschichten bietet das Heft «Reportagen». «Ist «Reportagen» gut und warum gibt es noch keinen Beitrag darüber?» wurde ich letztens von einem Freund angesprochen. Tja, es handelt sich bei Reportagen nicht um ein literarisches Werk, sondern um Journalismus. Entschuldigt darum die späte Nennung, eigentlich sind wir ja ein Bücherblog. Aber:


Sechs Mal im Jahr flattert das knallige Heft mit den farbigen Geschichten aus aller Welt zu mir in den Briefkasten. Und erzählt mir unglaubliche Märchen aus den entferntesten Orten der Welt: Von mutigen, aber unbekannten Revolutionär*innen, von Krankheiten, die so selten sind, dass sich kaum jemand darum kümmert. Von ungerechten Gerichtsentscheiden, von genialen Wissenschafter*innen und von Geschichten, die sich vor unserer Nase abspielen aber durch das Schema der klassischen Medien fallen.


Wenn man zu viel Gelato gegessen hat, wenn man sich das Knie aufgeschürft hat oder einen Sonnenbrand eingefangen hat, dann braucht man Medizin, oder etwas Ähnliches. Genauso, wenn man traurig ist, sich zu alt fühlt oder Liebeskummer hat. Doktor Erich Kästner weiss zu helfen: In der lyrischen Hausapotheke können die Gedichte nach dem jeweiligen seelischen Wehwehchen nachgeschlagen werden.


Aber Vorsicht, in meiner Ausgabe steht in der Handschrift meines Vaters: «Dieses Buch ist wie Sirup. Eine Wohltat, wenn man den Geist in kleinen Schlucken damit versüsst. Trinkt man jedoch zu viel davon aufs Mal, so wird einem übel.»

Wie schön und philosophisch, dachte ich. Was er wohl sonst noch alles geschrieben und gedacht hat, wovon ich nichts ahne? Welche Seiten von ihm kenne ich (noch) nicht? Wie sich herausstellte, handelt es sich bei der Inschrift «nur» um ein abgewandeltes Mark Twain-Zitat. Mein Vater schrieb früher gerne Zitate in seine Bücher - möglicherweise muss ich mal sein Bücherregal genauer unter die Lupe nehmen. Wer weiss, was da noch verborgen liegt...


Ich hoffe euch ist nicht übel geworden von der ganzen Auswahl. Seid mutig und probiert euch durch oder beschenkt eure Liebsten mit etwas Vielfalt. Das können wir alle gut gebrauchen. Verschwindet eine Gelato-Sorte aufgrund von fehlender Nachfrage aus der Vitrine, so ist das schade, aber nicht unerträglich. Wird aber eine Geschichte zu wenig anerkannt und verschwindet, sind wir um eine Gedankenwelt ärmer. Und was dies alles mit sich zieht, davon will ich gar nicht anfangen.


Tschäse & Bussi

Sasha


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