«Mein Wortschatz» von Thomas Widmer (2021)
Meinungen muss man ertragen können, egal ob fremde Meinungen oder die eigene. Etwas, was mir nicht immer leicht fällt, vor allem wenn die Meinung des Autors oder der Autorin von meiner eigenen abweicht. Interessanterweise ist das oft auch bei Sachliteratur oder Nonfiction der Fall, denn Fakten sind nicht einfach Fakten. Sie bedürfen einer Interpretation und einer Selektion, ein Sachbuch wird meist vom Autor oder der Autorin in eine gewisse Richtung gelenkt. Nicht grundlos gibt es die Bezeichnungen «Sachliteratur» und «Fachliteratur». Deshalb lese ich kaum Nonfiction: Entweder erzählen mir solche Bücher auf 300 Seiten, was sowieso zu meinen Meinungen passt. Oder aber sie sind mit so einem so klaren, meinen Meinungen entgegengesetzten, Interpretationsansatz geschrieben, dass ich mich sofort gegen alle Informationen sträube. Bekehrungen und Überzeugungen auf mehr als 20 Seiten machen mich aggressiv.
Es gibt dennoch kleine Schlupflöcher, um meinen Horizont zu erweitern (denn erweitern will ich ihn), ohne Fachliteratur lesen zu müssen. Das wären einerseits Essays, die mir mit einer überschaubaren Länge auch Raum für meine eigenen Interpretationen und Überlegungen lassen. Andererseits journalistische Texte, wie man sie im Reportagen-Magazin findet. Oder eben Thomas Widmers «Mein Wortschatz».
Von «Äää» bis «Zwäg» teilt der Schweizer Journalist seine Schätze in seinem Wörterbuch mit uns: Die Wörter die ihm begegnen und ihn begeistern, verwundern. Wörter, zu denen er Geschichten erzählt und seine Meinungen mit uns teilt. Mit einer grossen Prise Humor und viel Wissen über die Schweiz, ihre Sitten und ihre Geschichte. Ich stutze darüber, dass das Wort «Putsch» aus der Schweiz kommt, lache über den Kommentar zu «Lörnings» und sinniere über die philosophischen Ausführungen zum Wort «Einheimisch».
Sprache ist ein Gebrauchsmaterial, das nie ausgeht, sich ständig verändert. Gerade in der Schweiz, wo im Grossteil des Landes keine Sprache gesprochen wird, sondern Dialekt. Dialekt, der zwar die wissenschaftliche Bezeichnung «Sprache» nicht verdient, der dennoch von deutschsprachigen Menschen kaum verstanden wird. Widmers kleine Sammlung hat einige Kuriositäten aus der Schweiz auf Lager: Scheinbar banale Wörter, die sorgfältig analysiert und von einer anderen, mir neuen, Seite gezeigt werden. Aber auch witzige neue Wörter, die sich wegen neuen Erfindungen herausgebildet haben, genauso wie alte Ausdrücke, die man kaum noch kennt, geschweige denn verwendet, finden ihn Widmers Wortschatz ihren Platz. Ich versuche mich an vergessene Wörter zu erinnern, die ich in meiner Kindheit gehört habe, die nun aber fast aus meinem Wortschatz verschwunden sind.
Man sollte keinen zu normativen Ansatz bei Sprachwandel verfolgen, nicht die Anglizismen verfluchen, die wir alle verwenden – das führt zu nichts. So viele selbstverständlich verwendete Wörter stammen nicht aus dem Deutschen, sondern aus dem Lateinischen oder aus dem Französischen und sind Fremdlinge in unserer germanischen Sprache. Dennoch hätte ich gerne ein paar Alternativen für «Cool» oder «Nice» auf Lager. Einfach, weil sie schön anzuhören wären und mir vielleicht etwas aus vergangenen Zeiten erzählen könnten. Oder weil sie gewisse Phänomene und Gefühle möglicherweise passender umschreiben könnten.
Widmer erzählt kaum nostalgisch über seine Wörtersammlung, vielmehr setzt er den Akzent auf seine Verbindung zu den Wörtern. Es ist schliesslich nicht ein Wortschatz sondern eben sein Wortschatz. Mit seinen Meinungen und Auslegungen. Allerdings in sehr erträglichem Masse - dank der Kürze der Wörtereinträge muss ich mich nicht länger als nötig mit seiner Meinung zu einem bestimmten Thema auseinandersetzen. So kann ich versuchen, meinen Horizont Hand in Hand mit meinem Wortschatz dennoch zu erweitern. Und wer weiss – vielleicht auch ein wenig meine Meinung ändern.
Tschäse & Bussi
Sasha
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