«Der Rote Diamant» (2022) von Thomas Hürlimann, ein Beitrag im Rahmen des Schweizer Buchpreises
Früher war alles anders. Ob es besser war, darüber lässt sich streiten. Anders war es aber auf jeden Fall. Früher gab es Oldtimer, Hochsteckfrisuren, Plattenspieler, Mundharmonikas und Hippies. Es gab grosse Klöster und Zöglinge, die Habsburger und verschollene rote Diamanten. Einige dieser Dinge haben die Jahrzehnte überlebt, an andere denken wir heute etwas nostalgisch zurück. Wer sich ein wenig aus der heutigen Zeit herauslesen möchte, ist mit Thomas Hürlimanns «Der Rote Diamant» gut beraten.
Es sind die 1960er: Arthur muss auf Wunsch seines Vaters ins Kloster «Maria Schnee», dem letzten Überbleibsel des habsburgischen Reichs. An diesem Ort, wo es auch im Sommer schneit, soll er zu einem rechten Mann werden. Ein Internat, in dem man seinen Namen verliert und stattdessen eine Nummer erhält, die 230 in Arthurs Fall.
Man munkelt, dass in Maria Schnee ein roter Diamant versteckt sei, ein letzter Reichtum der Habsburger Kaiserfamilie. Dieser Edelstein ist der Grund, weshalb Arthur sich durch die eher lebensfeindlichen und harten Lebensbedingungen schlägt, den «roten Stern» immer im Geiste. Dieser Stern erhellt auch den «ewigen Tag», der im Kloster herrscht, durch die immergleichen Glockenschläge, Abläufe und Rituale scheint die Zeit in Maria Schnee stillzustehen. Genauso homogen sollen auch die Zöglinge sein: Wer aus der Masse heraussticht, durch gute oder schlechte Schulleistungen, wird bestraft. So tragen alle die gleichen Mönchskutten, nehmen das gleiche Essen zu sich, müssen zur gleichen Zeit ihren Darm entleeren und sind sich selbst in ihren Träumen - von Titten Schnitzeln Hintern Fritten - gleich. Auch in seiner Suche nach dem roten Diamant ist Arthur nicht alleine…
Mit grosser Spannung verfolgen wir einerseits den Weg des roten Diamanten, andererseits den Niedergang des Klosters, analog zu Arthurs Entwicklung von einem Kind zu einem Mann. Gerne hätte ich aber noch etwas mehr zu Arthurs Gefühlen und Beziehungen erfahren, zuweilen erschien mir seine Figur etwas gar flach. Möglicherweise verwehrt Hürlimann uns hier aber bewusst die Charakterentwicklung, denn die Zöglinge erhalten kaum Raum, ihre Persönlichkeit tatsächlich auszuleben. Die Männerlastigkeit hilft der Geschichte in dieser Hinsicht auch nicht gerade, Frauen treten vor allem als Mütter, Geliebte oder in Form der hölzernen Madonna in Erscheinung. Könnte eine bewusste Entscheidung sein, rückt aber die Geschichte, zusammen mit den Anspielungen, auch in so ein Freudsches Licht. Nicht ganz mein Ding, muss ich gestehen, dennoch erkenne und bewundere ich auch die Komplexität des Ganzen.
Thomas Hürlimann hat selbst als Kind einige Jahre in einem Kloster verbracht, somit konnte er wohl einige seiner eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in die Geschichte einfliessen lassen. Auch diesen verschollenen roten Diamanten, den «roten Florentiner», soll es tatsächlich gegeben haben. Diese beiden Grundlagen verwebt Hürlimann zu einem wirkungsvollen Ganzen, zu einem Kloster mit Geheimgängen und kuriosen Gestalten und zu einem ausgeklügelten Roman, in dem man als Leser*in wohl nie alle Rätsel lösen wird.
Wer ein gut geschriebenes, mysteriöses Abenteuer sucht, fährt mit «Der Rote Diamant» sicher nicht komplett falsch. Für mich bleibt Hürlimanns Roman allerdings vor allem ein Fenster ins letzte Jahrhundert, in längst vergessene Werte und Traditionen. Ein Besuch in einen Escape Room mit Klosterkulisse, voller Rätsel, die gelöst werden wollen und einem Schatz, der gefunden werden muss. Wer zurückkehrt, in die «reale Welt», wird sich an die verzwickten Rätsel und Geheimnisse erinnern, wahrscheinlich aber weniger an bestimmte Gefühle oder Empfindungen.
Tschäse & Bussi
Sasha
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