Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji (2010)
Ich war gerade elf Jahre alt, als mir meine Schwester dieses Buch zu Weihnachten schenkte. Sie war davon begeistert, also würde ich es auch sein, war sie überzeugt. Was meine Schwester nicht bedacht hatte, war unser Altersunterschied: sie ist sieben Jahre älter als ich. Dennoch befand sie mich für genügend reif, mir «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji unter den Weihnachtsbaum zu legen.

Den komplizierten Sätzen, die sich teilweise über mehrere Seiten hinziehen, konnte ich mit elf Jahren jedoch beim besten Willen nicht folgen. Das verunsicherte mich, noch nie zuvor hatte ich ein Buch nicht lesen können, weil ich es nicht verstand. Ich unternahm einige Anläufe, scheiterte aber jedes Mal. Ich fühlte mich dumm und legte das Buch zur Seite.
Meiner Schwester erzählte ich nichts von meinen kläglichen Leseversuchen – sie sollte mich schliesslich nicht ebenfalls für dumm halten. Und ich war froh, dass sie mich nicht danach fragte.
Heute gehört das Werk von Melinda Nadj Abonji zu meinen Lieblingsbüchern, die ich gerne wieder lese – was mir nur selten passiert. Zum Glück gab ich dem Buch mit etwa 14 Jahren nochmals eine Chance und siehe da, ich konnte ihren Sätzen plötzlich folgen.
Die Sprache der Autorin zieht mich immer wieder in einen Bann. Ihre Kommata sind so zahlreich, dass ich das Buch gar nicht weglegen kann, weil ich beinahe atemlos ihren Schilderungen folge.
Die Geschichte von Ildikó Kocsis, die mit ihrer Familie von der serbischen Vojvodina in die Deutschschweiz migriert, nahm mich mit. Die Themen Migration und Integration hatten es inzwischen auch auf die politische Agenda einiger Parteien geschafft. Ich erinnere mich an sehr lebhafte Auseinandersetzungen mit meinen Mitschülern – ausschliesslich männlichen.
Wer sich fragt, wie es sich anfühlen muss, an einem neuen Ort Fuss zu fassen. Wie es sein muss «die Fremden» zu sein, kann in «Tauben fliegen auf» einem solchen Schicksal folgen. Das Buch ist reichhaltig und verknüpft Einzelschicksal, Familiengeschichte und osteuropäische Geschichte. So wurde es 2010 mit dem Schweizer und gleichzeitig mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Melinda Nadj Abonji ist, wie ihre Protagonistin, im ehemaligen Jugoslawien und heutigen Serbien geboren. Auch sie und ihre Familie, lebten in dem Teil Serbiens, der zu einer ungarischen Minderheit zählte. Und genauso wie die Familie Kocsis, sind Melinda Nadj Abonji und ihre Familie in die Schweiz migriert.
Es gibt also ziemlich viele Parallelen zwischen dem Leben der Autorin und dem der Protagonistin. Das Buch wird jedoch nur als «autobiografisch gefärbt» beschrieben, was wohl bedeutet, dass manche Teile fiktiv sind.
Das Buch schöpft aber aus persönlichen Erfahrungen, was ich zu spüren glaube. Es zeigt, wie mühsam das Dazwischen ist: Wenn man sich fragen muss, wo oder was die Heimat eigentlich ist? Für mich löste es eine Art permanenten Schwebezustand aus. In der früheren Heimat gehört man nicht mehr richtig dazu, in der Neuen ebenso wenig.
Ich würde dieses Buch jeder und jedem wärmstens ans Herz legen, der manchmal Vorurteile gegenüber immigrierten Personen bei sich entdeckt. Vor allem würde ich es jenen empfehlen, die 2014 zur «Masseneinwanderungs-Initiative» ein «Ja» in die Urne gelegt haben.
Tschäse und Bussi
Elena
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