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  • Gastbeitrag

Meermalen

«Das Meer. Ein Bilderbuch aus Südamerika» von Micaela Chirif (Text)


Von Alexia Panagiotidis


Die warmen Temperaturen während der Eisheiligen haben mich in die Liegestuhlmentalität geholt und mich in verzückte Sommerlaune versetzt. Für solche Launen brauche ich eine gute Lektüre, bei der mich das Bilderbuch «Das Meer» angesprochen hat.



Das Bilderbuch dreht sich wellenartig um das Meer und erkundet dieses nicht europazentriert, sondern erfrischend anders, aus einer lateinamerikanischen Perspektive. Es ist ein Exotikum, das in seiner spanischen Originalausgabe mit dem lateinamerikanischen Preis für Kinderpoesie ausgezeichnet wurde.


Das Deckblatt scheint wie vom Meer selber geschrieben zu sein, was mich neugierig gemacht hat. Es ist beinahe so, als würden die Wasserfarben artistisch, ja akrobatisch versuchen die Bewegungen des Meeres nachzuzeichnen. Auch die kleinste Regung des gigantischen Gewässers wird illustratorisch und literarisch eingefangen.


Das Vorsatzpapier leitet mit einem Zitat von Martin Adan ein: «Wenn du etwas über mein Leben wissen willst, dann geh und schau aufs Meer.» Darunter ist ein Mädchen abgebildet, getupft, mit buntem Oberkleid, das beidhändig mit Wasser malt oder spielt. Die Illustration auf grauweissem Hintergrund ist vieldeutig und lädt zum Imaginieren ein.


Eine Handlung in diesem Sinn gibt es nicht, sondern einzelne Szenen, die frei assoziierend daherkommen, aber doch auf ein kohärentes Ende zusammenlaufen, das alle aus dem Meer gewonnenen Erkenntnisse pointiert zusammenträgt. Die Szenen werden durch Naturphänomene, Meerestiere und Meerjungfrauen bespielt. Zuweilen hat man das Gefühl, dass das Mädchen diesen Phänomenen begegnet oder über die Fabelwesen nachdenkt, wobei dieser Gedankenfluss von einer anderen Stimme aufgenommen und weiterverarbeitet wird.


Eine besondere Stelle, die mir in Erinnerung geblieben ist, dreht sich um die Sterne des Meeres. Die Natur der Seesterne scheint eine andere als die der Menschen zu sein. Gezeigt wird dies bspw. dadurch, dass nur Menschen im Gegensatz zu Tieren Eigennamen gebrauchen, soweit wir wissen zumindest. Ungeachtet dessen sperrt sich das Buch gegen den Unterschied zu den Tieren, zur Natur im Allgemeinen und gibt sich Mühe, diesen zu verkleinern, indem der Stern «Rahel» genannt wird.


Manchmal läuft dies aber auch schief, wie am Beispiel der Wolken exemplarisch vorgeführt wird: Die Wolken hören nicht auf Namen und kommen nicht zurück, wenn man sie ruft. Sie ziehen weiter, wenn man sie ruft und entziehen sich dadurch der bezwingenden, menschlichen Macht, Dinge zu benennen und zu bestimmen.


Es tauchen mitunter hybride Wesen wie Meerjungfrauen auf, die an Andersens Kleine Meerjungfrau erinnern, die keinen Namen hat, keine Buchstaben kennt, aber singt. Und auch das Buch selber singt, durch die Wortwiederholungen und Anaphern.


Die Stimme des Textes definiert sich als eine menschliche, ist aber unbestimmt und wechselt häufig die Perspektiven. Es ist eine lyrische Stimme, die nachdenkt und singt, zwischen Genres und Medien changiert und wie das Meer kein Geschlecht und kein Alter hat:


«Das Meer stirbt nicht. Das Meer rauscht, rauscht, rauscht.»



Das Bilderbuch überrascht immer wieder. Sei es durch die avantgardistisch anmutende Bildkunst oder aber durch die im Raum schwebenden Wörter, die in Form von Prosa-Gedichten das Meer ergründen wollen. Sie drücken eine unkonventionelle und originelle Herangehensweise an das Medium Bilderbuch an, das in der Literaturwelt noch unterschätzt wird.


Obgleich das Buch kinderleicht daherkommt, ist es nicht ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Anspruch des Buches, das Meer verstehen zu wollen, ist komplex und bedarf weniger einer logischen Herangehensweise. Wie das Deckblatt suggeriert, das beim genaueren Betrachten ein Kardiogramm des Meeres entfaltet, muss man sich auf das Meer – mit allen seinen Sinnen – einlassen, und es auf sich wirken lassen.


Während der Lektüre hat mein meersüchtiges Herz häufig höhere Wellen der Euphorie geschlagen, die abwechselnd auch von Nostalgie gebrochen wurden. Unweigerlich muss man als Lesende an die eigenen Meererlebnisse nachdenken: Wie man als Kind das Meer erfahren hat und was man heutzutage für einen Bezug dazu hat. Die Sätze regen zum Denken an, brauchen Zeit, um gesättigt zu werden, wie die Farben und Collagen.


Abschliessend lässt sich sagen, dass Das Meer ein intermediales Kunstwerk für ein grosses Publikum ist, das bereit ist, in philosophische Fragestellungen rund um das Meer einzutauchen. Dadurch ist es im besonderen Mass sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zugänglich.


Das Bilderbuch eröffnet Welten, nicht nur in Bezug auf das Meer, sondern auf die Welt, die Kindheit und die Natur, die durch den Klimawandel mehr denn je in Bedrängnis, in Vergessenheit gerät. Belohnt wird es, indem man sich auf den Sätzen wie auf den Wellen gleiten lassen kann.

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