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  • Sasha Müller

Moral im roten Polster

«Fabian» von Erich Kästner (1931) und «Fabian» (Verfilmung) von Dominik Graf (2021)


Es ist bereits dunkel im Saal, die meisten Zuschauer*innen sitzen bequem in ihren weichen Sesseln, man hört fremdes Gequatsche. Was für ein friedliches Geräusch, denke ich, und merke erst jetzt wie sehr ich das vermisst habe. Hastig zwängen sich die Letzten durch die Sitzreihen. Was war das nochmals, ah Reihe 8, Platz 9 und 8, ein entschuldigendes Lächeln lässt sich hinter der Maske erahnen. Dann beginnen auch schon die Werbungen mit den Vorfilmen auf der Leinwand zu tanzen. Ich sitze mit meinem Freund im Arthouse Uto, stelle mein Handy ab und öffne dem Film zu Ehren ein Bier. «Fabian», steht da gross auf der Leinwand, und «Frei nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner».


Drei Stunden sassen wir wie gebannt in den roten Polstern und saugten den Film von Regisseur Dominik Graf in uns hinein: Das fast quadratische Bildformat, die erschreckenden, lauten Passagen, die eingestreuten historischen schwarz-weissen Filmausschnitte, die wunderbaren Wort-für-Wort Zitate aus Erich Kästners Roman.


«Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht. Und wir wollen doch heraus!»





Berlin, Ende 1920er: Dr. Jakob Fabian, Germanist und Werbetexter für ein Zigaretten-Unternehmen, versucht in den Bordellen und Kneipen des Berliner Nachtlebens die Moral nicht zu verlieren. Kästner führt uns durch Fabians Berlin: Kein Detail wird ausgelassen, kein Tabu gesetzt und hinter scheinbaren Banalitäten versteckt sich immer wieder eine Weisheit. Kästner vermag es, erotische Szenen und Liebe aus den Perspektiven beider Geschlechter darzustellen, ohne zu urteilen. Wunderbar leicht liest sich der Roman, während Deutschland in Fabians Geschichte langsam aber sicher in den Abgrund der Wirtschaftskrise und des Nationalsozialismus driftet.


Während das Buch durch Kästners Erzählstimme trotz der chaotischen und dramatischen Ereignisse eine gewisse Ruhe behält, ist der Film eine einzige Wucht – Laute Bilder zeigen die Beziehungen sehr viel näher und emotionaler als im Buch. Einige politische Momente wurden dazugedichtet und steigern noch zusätzlich die Spannung. Eben «Frei» nach Erich Kästner, wobei die meisten Szenen aus dem Buch übernommen wurden, einige sogar genau nach dem Text. So findet Kästners literarische Erzählstimme auch im Film einen Platz.


«Fabian» hat an keinerlei Aktualität eingebüsst, daran hat mich mein Kinobesuch wieder erinnert. Die Moral in einem unmoralischen System nicht zu verlieren, die Liebe irgendwie erleben und ertragen können, die Mutter nicht enttäuschen wollen. Und immer wieder der Preis, den man zahlen muss, wenn man sich verkauft – Fabians Geschichte könnte auch heute spielen. In unserem System, in dem viele Menschen stark benachteiligt und ausgebeutet werden und wir oftmals die Augen davor verschliessen. In unserer Gesellschaft, in der mit einem kurzen Blick auf Tinder und einem Swipe nach rechts entschieden wird, mit wem man schläft - völlig unverbindlich und ohne Gefühle natürlich.


Fast alle Zuschauer*innen blieben beim Abspann sitzen. Man braucht Zeit, um sich von der Welt auf der Leinwand zu lösen und in die Realität zurückzukehren. Gerade nach so einem Film, der mich mit nach draussen in den hellen Abend begleitet, die starken Bilder und die laute Musik in mein Gehirn gebrannt. Kästner wäre wohl ganz zufrieden aus dem Kinosaal gekommen. Ich meine zumindest, seinen Fabian auf der Leinwand erkannt zu haben.


Tschäse & Bussi

Sasha


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