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  • Xhemile Asani

Selbstbestimmungsversuche

Drei Romane, die von unterschiedlichen Selbstbestimmungsversuchen erzählen.


Emanzipation und Selbstbestimmung sind Prozesse, die wahrscheinlich nie vollständig beendet sein können. Wir müssen uns immer wieder selbst hinterfragen und neu positionieren. Wir müssen uns aber auch mit anderen austauschen und uns bekräftigen, damit wir gegen unterdrückende oder eingrenzende Umstände vorgehen können. Während sich dafür Gespräche mit befreundeten Personen super eignen, gibt es natürlich auch Romane, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen und uns Stärke geben können. Dies gilt jedenfalls für mich. Die Protagonistinnen dieser Romane sind zu meinen geistigen Freundinnen geworden und sie inspirieren mich dazu, mich tiefergehend mit meiner eigenen Selbstbestimmtheit auseinanderzusetzen. Deshalb möchte ich drei Romane mit euch teilen, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise von Selbstbestimmungsversuchen erzählen.



«Milk Teeth» von Jessica Andrews


«I thought freedom was the chance to become anyone, but I was beginning to think I had been wrong. I needed to learn how to look at the woman inside me without flinching, learn how to feed her and care for her, to recognize her as me.»


Bei «Milk Teeth» hat es mich beinahe ein wenig gegruselt, wie sehr ich mich in der namenlosen Protagonistin wiedererkennen konnte. Sie ist ein bisschen verträumt, sucht nach ihrem Platz in der Welt und imaginiert sich als verschiedene Personen, die sie sein könnte. Dabei steckt sie in einer Beobachtungsposition fest: Alle um sie herum scheinen gelassener und freier zu sein als sie. Ihr Leben ist nämlich geprägt von Schuldgefühlen, Scham und Ängstlichkeit. Sie hat sich daran gewöhnt, sich ständig klein zu machen, und möchte endlich ausbrechen – gross und chaotisch und unsauber. In einer sinnlichen Sprache werden diese Unsicherheiten und Wünsche beschrieben. Die Gründe für die Beklemmung der Protagonistin werden anhand Erzählungen aus ihrer Vergangenheit erörtert, wobei ihr Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie und in einem weiblich gelesenen Körper im Zentrum stehen.


Es gab mir Stärke, zu verstehen, dass auch meine eigenen Verunsicherungen – das Gefühl von Kleinsein und der Unfähigkeit, Zugang zu den eigenen Wünschen zu haben – von sozialen Faktoren geprägt sind und nicht lediglich aus meiner eigenen Unzulänglichkeit erwachsen sind. Und es gab mir Stärke, die Geschichte einer weiblichen Person zu lesen, die aus ähnlichen ökonomischen Umständen kommt wie ich. Mir wurde anhand der Protagonistin klar, wie schwierig es ist, gefühlsmässig aus dieser Realität hinauszuwachsen und zu verstehen, dass man nicht mehr das gleiche kleine Mädchen ist, das über wenig Mittel und Entscheidungsmöglichkeiten verfügt.


Die Schwierigkeit in «Milk Teeth» ist jedoch, dass der Ausbruch aus der Beklemmung der Protagonistin kaum gelingt. Deshalb wird es an gewissen Stellen etwas repetitiv und somit frustrierend, stets mit den gleichen Verunsicherungen konfrontiert zu sein. An gewissen Stellen werden Gefühle von Befreiung und Veränderung beschrieben, deren Entwicklung aber kaum nachvollziehbar ist. So fühlt man sich von Zeit zu Zeit in der Sprache des Romans, die so viel Schönes zu bieten hat, ein bisschen gefangen. Da «Milk Teeth» auf eindrückliche Weise wichtige Themen wie Intersektionalität und Selbstverwirklichung erörtert, lohnt sich diese Lektüre dennoch definitiv.



«August Blue» von Deborah Levy


«That was the old composition and I had walked out of that world. I had literally walked off the stage.»


«August Blue» ist wohl genauso poetisch, wie der Titel es suggeriert. Gleichzeitig ist der Tonfall des Romans von Scharfsinn und Humor geprägt. Es geht um die weltbekannte Pianistin Elsa, die als Sechsjährige von einem erfolgreichen Klavierlehrer adoptiert worden ist. Da sie von diesem als Wunderkind erkannt wird, spielt sich ihr Leben hauptsächlich in der Musikwelt ab. Die Erzählung beginnt jedoch an dem Punkt, an dem bereits ein Einschnitt in dieses Leben erfolgt ist: Nachdem Elsa in Wien statt Rachmaninows «Piano Concerto Nr. 2» für 2 Minuten und 12 Sekunden eine eigene Komposition gespielt hat, muss sie die Bühne verlassen und als private Klavierlehrerin von Ort zu Ort reisen. Diese Reise beginnt in Athen, wo sie auf einem Flohmarkt ihre Doppelgängerin zu erkennen glaubt: Eine Frau, welche die letzten zwei mechanischen Tanzpferde eines Standes ergattert, die Elsa für sich selbst beanspruchen will.


Die Handlung dieses Romans schien mir etwas ungewöhnlich, als ich davon las. Ich fragte mich, wie man darauf kommt, von einem Wunderkind zu schreiben, das mit sechs Jahren adoptiert wurde und irgendwann keine Lust mehr hat, vorgegebene Stücke zu spielen. Es brauchte ein bisschen Zeit, bis ich Zugang zu dieser Geschichte fand. Als ich ihn jedoch gefunden hatte, konnte ich das Buch kaum noch weglegen.


«August Blue» erzählt von einem Selbstbestimmungsversuch gegenüber einer hierarchischen Welt, gegenüber Männern und gegenüber Autoritäten wie Eltern und Lehrpersonen. Es erzählt davon, wie wir oft damit konfrontiert sind, dass andere uns einen Weg vorzeichnen wollen und wie es verschiedene Wege gibt, sich dagegen aufzulehnen. Die Musikalität der Sprache, mit der dieser Selbstbestimmungsversuch erzählt wird, verleiht den Worten eine bezaubernde Wirkung und hallt darum lange nach.



«Häutungen» von Verena Stefan


«der mensch meines Lebens bin ich.»


«Häutungen» ist bestimmt ein Buch, das ich noch ein zweites, vielleicht ein drittes und irgendwann ein viertes Mal lesen könnte – und sollte. Auch wenn ich das Wort «radikal» aufgrund der negativen Konnotation oft meide, ist es doch eines, das zu diesem Buch passt (und zwar im besten Sinne des Wortes). «Häutungen» erzählt nämlich von allen Büchern, die ich gelesen habe, den radikalsten Emanzipationsprozess.


«Häutungen» war im Jahr 1975 das autobiografische Romandebüt der Schweizer Autorin Verena Stefan. Sie beschreibt in einem metaphorischen Häutungsprozess ihre (sexuelle) Loslösung vom männlichen Geschlecht und ihre Hinwendung zum weiblichen. Dabei strebt sie nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form eine radikale Subjektivität an. Sie distanziert sich von den gegebenen Grammatik- und Orthographieregeln, bricht die Form des Prosatextes auf und versucht somit eine eigene Sprache zu finden.


Spannend ist, dass dieser Roman sowohl als Zeugnis der Vergangenheit als auch aktuelle Gesellschaftsanalyse gelesen werden kann. Gleichzeitig wird ein möglicher Lebensentwurf – die Loslösung vom männlichen Geschlecht – vorgeschlagen. Auch wenn man diesen Weg nicht wählen möchte, lohnt es sich, die Welt aus der Perspektive der Protagonistin zu denken. Diese drängt nämlich dazu, essenzielle Fragen aufzuwerfen, wie: Warum will man als Frau sozialisierte Person so sehr von Männern begehrt werden? Wie können wir uns von diesem Abhängigkeitsverhältnis befreien? Und wie können wir uns anders sexuell begegnen?


Auch wenn ich immer dachte, dass ich eine feministische Person bin, hat mir dieses Buch doch wieder einen ehrlichen Spiegel vorgehalten. Ich musste einsehen, dass ich noch viele unbeantwortete Fragen habe, was meine eigene Emanzipation angeht. So ist «Häutungen» von diesen drei Büchern bestimmt auch dasjenige, das am meisten frustriert. Es offenbart nämlich die Komplexität des Patriarchats und wie tief dieses in unser privates Leben dringt. In dieser extremen Hinterfragung gesellschaftlicher Verhältnisse hat es aber auch einen erfrischenden und bestärkenden Charakter, weshalb ich es gerne weiterempfehle.

 

Diese Bücher haben mir viel gegeben: Sie sind sprachlich sehr beeindruckend und sie erörtern noch viele weitere komplexe Themen, die ich hier nicht erwähnt habe. Mir ist aber auch bewusst, dass ich hier vielleicht eine etwas einseitige Auswahl gegeben habe, da es sich in allen um weisse cis-Frauen handelt. Deshalb freue ich mich noch weitere Selbstbestimmungsbücher zu lesen, die mir ferner liegende Lebensrealitäten widerspiegeln. Fürs erste hoffe ich, dass auch euch diese Protagonistinnen begleiten und inspirieren können.


Tschäse & Bussi

Xhemile

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