top of page
  • Sasha Müller

Sprechende Bilder

«Starkes Ding» (Edition Moderne, 2022) von Lika Nüssli


Manchmal frage ich mich, ob man in 200 Jahren, nein eigentlich schon in 50 Jahren, noch Bücher lesen wird. Schliesslich hat man bereits heute kaum mehr Zeit, um so viele Buchstaben zu entziffern und in den Zusammenhang zu bringen. Kinder (und Erwachsene) sind sich von den Smartphones und Tablets vor allem visuelle Inhalte gewohnt – egal ob über Netflix, TikTok oder Instagram. Vielleicht sind also Bücher mit Bildern, oder eben Graphic Novels, das Medium der Zukunft? Die äussere Form eines analogen Buchs mit bedruckten Seiten und dem wunderbaren Geruch nach Leim und Papier werden wohl bestehen bleiben, da man Bücher weiterhin mit Ruhe und Entspannung als Gegenmittel des hektischen Alltags betrachtet - daran wird sich voraussichtlich nichts ändern. Allerdings wird sich, so denke ich, das Verhältnis verschieben zu Büchern mit vielen Bildern und wenig Text.


Da würde man sich im Jahr 2222 müde von der Arbeit nach Hause beamen und auf das schwebende Sofa fallen lassen. Nach dem Essen, das einem die Küche von selbst gekocht hat, man musste nur die richtige Kombination von Knöpfen drücken und Auswahlen treffen, möchte man sich entspannen. Einfach mal wieder Ruhe, denkt man sich, dennoch sich dabei ein wenig gebildet fühlen, man greift also zu einem Buch aus Papier, den potenziellen Social Media-Post schon im Hinterkopf. Etwas historisches soll es sein, witzig aber dennoch tiefgründig, zum Beispiel Lika Nüsslis «Starkes Ding».

In ihrem Graphic Novel hält die Schweizer Künstlerin Lika Nüssli die Geschichte ihres Vaters Ernst in Bildern und Worten fest: Ernst war über vier Jahre ein Verdingkind im Kanton St. Gallen, von seiner Familie einem fremden Bauernhof gegeben. Lika Nüssli hält in Zeichnungen und Texten das ganz persönliche Schicksal ihres Vaters fest und gibt so gleichzeitig allen Verdingkindern eine Stimme, denn Ernst ist kein Einzelfall: Mehrere 10'000 Kinder wurden in der Schweiz zwischen 1820 und 1970 verdingt. Ein dunkles Kapitel unserer Geschichte, welches nicht recht in das heutige Bild der schönen, perfekten Schweiz passen will.


Seite für Seite verschlingt man die Geschichte von Ernst: Melkt mit ihm in aller Herrgottsfrüh die Kühe, hungert mit ihm, sieht in vor Heimweh weinen und leidet mit ihm mit. Lacht aber genauso über seine Spielereien und schmunzelt, wenn Ernst im Dorfladen eine Tafel Schokolade stibitzt. Auch den alten Ernst lernt man kennen und hört zu, wie er seiner Tochter Lika Nüssli von seinen Erinnerungen erzählt.


Eine spannende, unterhaltsame und sehr berührende Lektüre, aber nach etwa einer Stunde hat man alles gelesen und erhebt sich vom schwebenden Sofa und kehrt ins Jahr 2222 zurück. Das Buch bleibt liegen, ausgekostet ist es aber noch lange nicht: Denn wie in einem Text, die Wörter eine Geschichte perfekt einkleiden, sind in «Starkes Ding» alle Bilder, Formen und Striche für die Handlung geschneidert. Auch in diesem Buch lässt sich zwischen den Zeilen lesen, dafür hat Lika Nüssli mit ihren Bildern gesorgt - durch genügend Weissraum, verfremdete Proportionen und mehrdeutigen Formen. Ein Bild sagt nicht immer tausend Worte, aber in Lika Nüsslis «Starkes Ding» tut es das.

Ein Buch voller Schweizer Geschichte, ein Stück Zeitdokumentation und ein wunderschönes Buch. Genau dafür ist Schweizer Literatur da: Wenn nicht wir über unser Land und unsere Geschichte schreiben, wer dann? Es scheint mir, dass Schweizer Autor*innen sehr gerne schreiben, nur leider oftmals nicht über das Leben in der Schweiz. Dabei wäre das sehr wichtig - damit auch Menschen im Jahre 2222 wissen, wie man in der Schweiz gelebt hat, was man philosophiert hat und warum bis noch in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Kinder verkauft wurden.


Eigentlich hoffe ich ja, dass Menschen auch in 200 Jahren noch Texte mit vielen Buchstaben und Wörtern lesen werden. Und trotz meiner hier geschilderten Zukunftsvision glaube ich das auch. Trotz der vielen visuellen Angebote gibt es immer noch sehr viele Menschen, die lesen - im Gegensatz zu dieser Angst, dass weniger gelesen wird als "früher". Früher gab es zwar keine Smartphones, dafür eine höhere Analphabeten-Quote, das gleicht sich wohl in etwa aus. Heute sind tiefgründige Graphic Novels meiner Meinung nach in der Welt der grossen Literatur vorerst noch ein wenig untervertreten. Ob sich dies in der Zukunft ändern wird, werden wir sehen – und lesen.


Tschäse & Bussi

Sasha


PS. Das Radio Stadtfilter hat die Künstlerin Lika Nüssli getroffen - hier geht's zur Sendung.

PPS. Am Freitag, dem 10. Juli um 19:00 könnt ihr uns wieder auf Radio Stadtfilter hören.

bottom of page