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  • Sasha Müller

Treffpunkt Nirgendwo

«Unterwegs nach Ochotsk» (2014), Eleonore Frey


Für Manches gibt es kaum Worte. Die Sehnsucht nach einem Ort oder einem Gefühl lässt sich nur schwer in Buchstaben und Laute kleiden. So vieles kann man nicht greifen und verschwindet im leeren Raum zwischen die Zeilen. Ins blanke Nirgendwo, in dem man sich oft verliert. Ein Ort, der in Eleonore Frey’s Roman «Unterwegs nach Ochotsk» Ochotsk genannt wird.

«Wer will schon nach Ochotsk?» fragt mich das Buch, wenn ich es auf den Rücken drehe oder es auf den ersten Seiten aufschlage. In Frey’s Roman geht es um ein Buch mit dem Titel «Unterwegs nach Ochotsk», welches Sophie in der Buchhandlung ihres Onkels verkauft – mit viel Erfolg. Alle Erwachsenen lassen sich in den Bann ziehen von diesem entlegenen Ort Sibiriens. Warum, ist auch Sophie unergründlich:


«Ist es vielleicht eine Sehnsucht nach Leere, die den Lesern das Buch empfiehlt? Solchen, die es in Gegenden zieht, in die noch kaum jemand vorgedrungen ist, und die darum noch nicht mit dem infiziert sind, was die Zivilisation unfehlbar zum Spriessen bringt, wo immer sie sich ins Recht setzt?»


Doch die Figuren, die sich für «Unterwegs nach Ochotsk» interessieren, scheinen eigentlich genug Leere in ihrem Leben zu haben: Keiner von ihnen ist glücklich, sie alle Leben allein in einer kleinen Stadt. Die Buchhändlerin Sophie wohnt mit ihren Zwillingen in Europa, während sich diese nach ihrem Vater in Ithaca (USA) sehnen. Robert, der Autor von «Unterwegs nach Ochotsk», sieht in Sophie seine Schwester. Roberts Nachbarin Theres sitzt den ganzen Tag in ihrer Wohnung und wartet darauf, dass Robert nach Hause kommt. Otto ist Arzt und behandelt Theres in seiner Praxis, zudem hat er ein Auge auf Sophie geworfen. Sie alle lesen und träumen von Ochotsk, diesem Ort am Ende der Welt, am Rande von Sibirien. Ein Ort, an dem kaum mehr jemand wohnt und Hunde auf Kreuzungen schlafen, weil dort keine Autos fahren. Wo man so viele unterschiedliche Blautöne sieht, dass man sie nicht zählen kann.


Mit ihrer ganz eigenen Sprache entführt Frey in eine Welt zwischen den Zeilen: Was es mit Ochotsk auf sich hat, bleibt den Lesenden zu interpretieren. Die Autorin spielt mit verschiedenen Symbolen, mit der Frage nach dem Schreiben und nach dem Lesen. Warum wählt man genau dieses Buch und nicht jenes? Träume auch ich, wie Sophie und Otto, von einem Ort, an dem die Zeit still steht? Habe ich darum bereits zum zweiten Mal nach diesem Buch gegriffen?


Unmöglich zu beantworten, aber auch ich träume manchmal von einer unendlichen Anzahl Blautönen und einer einsamen Holzbank im Nirgendwo. Besonders, wenn es zu laut und zu viel wird in meinem Leben. Wenn ich vor nicht mehr weiss, wohin mit all den aufgedrängten Regeln und Normen der Gesellschaft. Wenn ich mit jedem Termin, jedem Zug in den ich einsteige, mein eigenes Leben ein bisschen mehr verpasse. Vielleicht muss es nicht Ochotsk sein. Vielleicht sollte man diesen Ort besser gar nicht erreichen – der Roman lässt auf 124 Seiten viel Raum für Interpretation.


Ich bezweifle, dass ich jemals nach Ochotsk komme, zu weit und umständlich ist der Weg. Nach Eleonore Freys Roman weiss ich aber, wie sich dieser Ort anfühlt. Oder so gut wie.


Tschäse & Bussi

Sasha


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