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  • Sasha Müller

Worte statt Pinselstriche

«To the Lighthouse» (1927) von Virginia Woolf


Alle haben ihre eigenen Strategien, mit Stress umzugehen und die Geschwindigkeit des rasend schnellen Alltags etwas zu drosseln. Mein Wundermittel sind unter anderem Kunstmuseen mit ihren grossen, stillen Räumen. «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte» – so lautet das Sprichwort. Doch ein Bild spricht nicht wirklich, zumindest nicht in Worten. Die Worte zum Bild, die Geschichte zum Bild muss man sich selbst erarbeiten, aus Pinselstrichen, Farben und Motiven. Manchmal ist es wunderbar, statt Buchstaben und Worten, Formen und Farben zu lesen. Manchmal möchte ich aber nicht selbst die Worte suchen, ich möchte die Geschichte erzählt bekommen (Und ich habe auch nicht immer Zeit, um ins Museum zu gehen). Ich hätte gerne die Ruhe eines statischen Bildes, um alle Formen und Farben aufnehmen zu können und dennoch eine festgelegte Geschichte dazu. Zwar ist das Leben kein Wunschkonzert – aber genau dies habe ich in Virginia Woolfs «To the Lighthouse» gefunden.

Es ist Sommer, 1910er Jahre: Die Familie Ramsay verbringt mit Freunden ihre Ferien auf der schottischen Insel Skye, nicht weit von ihrem Haus sieht man den Leuchtturm aus dem Meer ragen. Mrs. Ramsay kümmert sich um ihre sechs Kinder und ihren Mann, einen Philosophen, sowie um die Gäste. Es passiert nicht viel, Gedanken der einzelnen Figuren fliessen nahtlos in Rückblendungen und bildliche Beschreibungen über - was den Text nicht ganz einfach zu lesen macht.


Mit ihrer poetischen Sprache nimmt Woolf uns mit in ein Bild, in eine Szene. Wir sehen jedoch nicht nur die eine, gerahmte Perspektive, sondern lernen alle Seiten der Figuren kennen und hinterfragen. Da ist beispielsweise Mrs. Ramsay, die starke Mutterfigur, um deren Aufmerksamkeit gekämpft wird, von den Kindern genauso wie vom klugen Ehemann. Oder ebendieser Ehemann, ein bekannter Philosoph, der sich nie genug geschätzt fühlt und der sich davor fürchtet, nach seinem Tod vergessen zu werden. Wir gehen von Figur zu Figur durch das Bild und haben Zeit, alle Charaktere aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Um uns herum immerfort das rauschende Meer und das gelbliche Licht des Leuchtturms. Dann wechselt die Szene und wir sehen das Haus an der Küste leer stehen, die Ferien sind zu Ende, die Zeit vergeht. Bis die Gruppe einige Jahre später zurückkehrt.


Keine Hauptfigur, keine Handlung, viele Gedanken und philosophische Anspielungen. Woolf lässt uns das Geschehen durch die Brille ihrer Weltansichten betrachten, um einige Fragen aufzuwerfen. Wie viel Aufmerksamkeit ist man jemandem schuldig – vor allem als Frau einem Mann gegenüber? Kümmert man sich aus Selbstlosigkeit um andere, oder versucht man damit bloss ein positives Bild von sich zu zeichnen und sich selbst bestätigt zu fühlen? Und was macht die Zeit mit Menschen, wie sieht das anfängliche Bild ein Jahrzehnt später aus?


Nach der Lektüre fühle ich mich wie nach einem Besuch im Museum, noch etwas benommen von all den Eindrücken und erfüllt mit neuen Gedanken und Ideen. Es ist nicht viel passiert, es hat sich nicht viel bewegt. Doch ich konnte ein bisschen Mutter und Ehefrau sein, ein wenig jüngster Sohn, mich in die Gäste und das Hauspersonal hineinfühlen und ihren Gedanken zuhören. Selten konnte ich literarische Figuren so gut verstehen, Stärken und Schwächen so nachvollziehen.


Virginia Woolf scheint mir eine sehr kluge Frau gewesen zu sein, mit einer unglaublich tiefgehenden Beobachtungsgabe aber leider einem nicht besonders glücklichen Leben. «To the Lighthouse» ist ein autobiographischer Roman, in dem Woolf ihre eigenen Kindheitserinnerungen der Sommerferien mit ihrer Familie miteinbindet. Zwar schrieb sie das Buch zwischen depressiven Schüben, war am Ende aber sehr zufrieden mit ihrem Werk - zurecht. Das Einzige, was ich gerne hinzugefügt hätte, sind Illustrationen. Vielleicht habe ich Glück und es erscheint ein Graphic Novel dazu. Aber eben, das Leben ist kein Wunschkonzert.


Tschäse & Bussi

Sasha

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