«Der ehemalige Sohn» (2014) von Sasha Filipenko.
Eigentlich schreiben Elena und ich unsere Beiträge immer unabhängig voneinander. Wir lesen, reflektieren, schreiben, lassen gegenlesen und korrigieren unseren Beitrag – oder lesen und kommentieren den Beitrag der Anderen. Als ich jedoch Elenas Beitrag «Aus den Augen, aus dem Sinn?» gegenlas, wollte ich tausend Dinge ergänzen, die in einem einzelnen Post bestimmt nicht Platz gefunden hätten. Dieser Post ist also, wie in der heutigen kommerziellen Welt nicht unüblich, eine Fortsetzung.
Meine Mutter wuchs in der belarussischen Hauptstadt Minsk auf, mein Grossvater und meine Cousins wohnen auch heute noch dort. Auch ich kenne den Präsidentenpalast, den Gorki-Park (nicht nur in Moskau vorhanden), die wichtigsten Metro-Stationen, das Opernhaus in Minsk. Allerdings hatte ich bis vor kurzem noch nie ein belarussisches Buch gelesen, obwohl es nicht am Angebot fehlt: Die Belarussin Swetlana Alexijewitsch erhielt 2015 für ihr Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Und auch der Autor Sasha Filipenko ist nicht unbekannt - der Diogenes-Verlag hat seine Romane «Der ehemalige Sohn» und «Rote Kreuze» publiziert. Letzteren wählte das Schweizer Radio übrigens unter die besten Bücher des Jahres 2020.
In «Der ehemalige Sohn» erzählt Filipenko die Geschichte des 16-jährigen Franzisk, der im Minsk der späten 90er Jahre aufwächst. Auf die Hoffnung nach dem Zerfall der Udssr 1991, folgt ein Zustand der schlummernden Erwartung. Doch es passiert – nichts. Franzisk fällt nach einem Unfall ins Koma und Belarus mit ihm. Seine Grossmutter hofft und wartet auf sein Erwachen, aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.
Mit seiner bildhaften Sprache führt uns Filipenko durch das Belarus der letzten 30 Jahre: In seinen Beschreibungen erkannte ich das mir wohl bekannte Minsk vermischt mit den Erzählungen meiner Mutter. Die graue Stadt mit den Menschen ohne Lächeln im Gesicht, den beiden ähnlich klingenden Amtssprachen Russisch und Belarussisch sowie der hohen Polizeipräsenz. Filipenko erklärt die kalte Logik, mit der so oft vorgegangen wird und die sich das Volk antrainiert hatte, antrainieren musste. Verrät man den eigenen Nachbarn für etwas Schulgeld des Sohnes und stellt man die Maschinen eines Komapatienten ab, um Platz für einen anderen zu schaffen? Statt nach einer anderen Lösung zu suchen?
Dennoch bleibt auch genug Platz für Hoffnung und eine starke Solidarität, die sich unter solchen Umständen auch herausbildet. Zahlreiche historische Ereignisse, Gedichte und kulturelles Wissen fliessen in die Geschichte mit ein – die Anmerkungen am Schluss erklären alles Unverstandene.
Wer das Leben in Belarus und die Hintergründe zu den Aufständen 2020 nachvollziehen will, dem empfehle ich diesen Roman wärmstens – ich wüsste nichts zu ergänzen. Und auch wer auf der Suche nach einem spannenden, stilistisch gelungenen Roman mit historischen Hintergründen ist, greift zum richtigen Buch.
Es machte mich traurig, die Geschichte auf Deutsch zu lesen, es ist aber nicht leicht, die russische Originalversion aufzutreiben. In Belarus wird der Roman wegen Zensur nur unter der Hand verkauft und in der russischen Buchhandlung in Zürich liess er sich nicht bestellen. Laut einem Geheimtipp meiner Mama lassen sich viele russische Bücher aber online gratis in der Originalsprache lesen. Für das nächste Mal dann.
Tschäse & Bussi
Sasha
PS: Sasha Filipenko liest am 18. September in Bern. Allerdings nur auf Russisch...
Hier gehts zur Eventinfo :)
PPS: Wie mich ein aufmerksamer Leser informiert hat, ist Sasha auch in Zürich präsent. Diesmal mit Übersetzer im Rahmen von «Zürich liest» .
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